1.
In die USA einzureisen, ist für mich immer eine Art Lotterie. Wie Sie
vielleicht wissen, gibt es einige Länder, die mich eher ungern
begrüßen. Mein russisches Visum habe ich bereits 2013 verloren, als ich
in Moskau ein Projekt gemeinsam mit Katya Samuzevich von Pussy Riot
machte – die anderen Mitglieder waren damals im Lager. Als ich ein paar
Jahre später den Europäischen Theaterpreis in St. Petersburg erhalten
sollte, und nicht einmal dafür ein Visum bekam, sagte mir der russische
Botschafter: "Sie können sich ja mal googeln."
Vor einem Jahr, als ich für "Antigone im Amazonas" ans Skirball
Center hier um die Ecke kommen sollte, wurde mir das Visum wieder einmal
verweigert: Die Begründung war, dass ich in Mossul, der ehemaligen
Hauptstadt des Islamischen Staates, gemeinsam mit der UNESCO eine
Filmschule gegründet hatte. Ich muss zugeben, dass ich verstehe, dass
das der Einreisebehörde suspekt erschien. Wir intervenierten bei der
Botschaft. Nach langen Interviews, in denen ich von meinem Militärdienst
in der Schweiz und anderen patriotischen Taten erzählte, bekam ich
dann, eher unerwartet, ein Zehnjahresvisum.
Beim Einreiseverhör spiele ich den "Dorftrottel" à la Brecht.
Seither finden die Verhöre bei der Einreise statt: Ich werde aus der
Schlange geholt, in einen Nebenraum geführt und befragt. Das Verhör
dauert jeweils ein paar Stunden, die ich quasi als Reisezeit einplane.
Wie es einst ein anderer europäischer Theatermacher, Bertolt Brecht,
praktiziert hat, besteht meine Strategie darin, mich als "Dorftrottel"
aufzuführen, wie die Schauspielerin Therese Giehse Brechts Performance
vor dem McCarthy-Tribunal für Antiamerikanische Umtriebe beschrieben
hat. In einer Mischung aus Beflissenheit und Ironie gebe ich meiner
ehrlich gemeinten Liebe für die Demokratie und den Dienst an der
Gesellschaft Ausdruck. Und in einer Mischung aus Mitleid und Nachsicht
werde ich dann jeweils durchgewunken.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich in New York war, lange
bevor ich in den Irak, nach Kuba, den Kongo, nach China oder in ein
anderes Land reiste, das mich hätte verdächtig machen können. Für den
Taxifahrer, der mich vom Kennedy-Airport in die Stadt brachte, schien
die Tatsache, dass ich aus Deutschland kam – damals lebte ich in Berlin –
nicht zu bedeuten, dass ich Ausländer war: Es war für ihn eher eine Art
zusätzliche Information, denn im Endeffekt kam ja jeder New Yorker von
irgendwo her. Am nächsten Morgen fragte mich die Köchin eines Diners,
woher ich kam, und wieder sagte ich: Deutschland. Mit einer Art
melancholischem Singsang in der Stimme sagte sie: "Oh, mein Großvater
starb in einem Konzentrations-Lager."
Dies alles schien weit entfernt, der Faschismus genauso besiegt wie
der Kalte Krieg beendet – und das transatlantische Bündnis unzerstörbar.
Europa war über Jahrtausende ein Kontinent der Tragödien, ein Kontinent
der Ideologien, der Grenz- und der Glaubenskriege gewesen. Aber mit
1989, dem Fall der Mauer, der sogenannten Wende, schien das alles
beendet. Als ich ein Teenager war, in den 90er Jahren, zerfiel
Jugoslawien. Hunderttausende starben, in Srebrenica – und anderen,
weniger berühmten Orten, da keine Blauhelme zugeschaut hatten – kam es
zum größten Völkermord seit dem Holocaust, diesmal an der muslimischen
Minderheit. Aber trotzdem schien das eher ein Epilog zu Europas
Gewaltgeschichte. Nationalistische Erlöserfiguren wie Milošević, der
damalige serbische Präsident, schienen ins Sepia einer bereits
vergangenen Zeit getaucht.
Als ich zum ersten Mal in den USA war, das war 1999, da war ich 22
Jahre alt, wurde Serbien von der NATO bombardiert. Ich war bei Freunden
in der Nähe des Trump Tower zu Besuch. Donald Trump war damals in Europa
nur als irre Reality-TV-Figur bekannt, und dafür, dass Melania, mit der
er 1999 zu daten begann, Slowenin war. Als im Fernsehen Bilder durch
Luftschläge zerstörter Städte zu sehen waren – damals schaute man noch
TV – fragten meine Bekannten mich verwundert: "Das geschieht jetzt?" Die
Bilder wirkten wie aus einer anderen Zeit. Kurzum: Wir hielten diese
Bilder, was es ja auch war, als den finalen Sieg über die Vergangenheit,
nicht ihre Wiederkunft.
2.
Heute, ein Vierteljahrhundert später, erscheint dies alles weit
entfernt. Zwei andere Kriege beherrschen die europäische Politik: der
Krieg in der Ukraine, der bereits hunderttausend Tote gefordert hat, und
der Krieg in Gaza. Der damalige TV-Star ist Präsident, bereits zum
zweiten Mal. Vor ein paar Wochen waren der ukrainische Präsident
Selenskyj und sieben europäische Regierungschefs, darunter der deutsche
Bundeskanzler, der französische Präsident Macron und die Chefin der
EU-Kommission, Ursula von der Leyen, bei Trump zu Gast. Es war, wie
damals bei Bertolt Brecht oder bei meinen Interviews mit der
Einreisebehörde, kein Treffen auf Augenhöhe, sondern eher eine Art
mündliche Prüfung.
Zum Beispiel war es verboten, so konnte man europäischen Medien im
Vorfeld entnehmen, "Waffenstillstand" zu sagen, da Trump sich in den
Begriff "Frieden" verliebt habe. Geprüft wurde auch Selenskyjs Anzug,
der dem amerikanischen Präsidenten und seinem Vize-Präsidenten dieses
Mal besser gefiel als vor einem Jahr, da er weniger militärisch war.
Bundeskanzler Merz – der traurige Nachfolger der Jahrhundertkanzlerin
Merkel und des bereits völlig vergessenen Kanzlers Scholz – gebrauchte
den Begriff "Waffenstillstand" trotzdem. Das war aber, zeigte sich,
völlig gleichgültig, weil Trumps Pläne ohnehin bereits feststanden:
Nämlich "Frieden" zu schaffen in der Ukraine. Einen imperialen Frieden
natürlich, eine Pax Americana gemäß der Handels- und Rohstoffinteressen
der amerikanischen Industrie.
Hitler hatte neben sich nur Stalin gelten lassen.
Er war der einzige andere Nicht-Staatsmann, der einzige Nihilist, der
kein anderes Interesse hatte als den Erhalt der Macht.
Wobei die Theorie, Trump sei eigentlich ein "Geschäftsmann" – die
finale Verkörperung des neoliberalen Geistes, der nicht in metaphyischen
Kategorien, sondern in Deals denke, wie es Melanias Landsmann, der
slowenische Philosoph Slavoy Žižek vertritt –, falsch ist. Eine Woche
vor der Ankunft der europäischen Zwergen-Präsident:innen in der Halle
des amerikanischen Großkönigs hatten sich Putin und Trump in Anchorage
getroffen. Auch wenn Putins Reich militärisch und wirtschaftlich nur
noch ein Schatten des sowjetischen Imperiums ist und die Wirtschaft der
EU zehnmal stärker als die russische, so begegnet Trump Putin auf
Augenhöhe.
Er schätzt an dem Mann die Härte, die Größe, die Klarheit, mit der er
Russlands historisches Schicksal, das Heilsversprechen seines Landes
gegen alle Logik verkörpert. Der moderne Politiker ist, wie einst
Milošević und vor ihm die kommunistischen, nochmal früher die
faschistischen Führer: der moderne Politiker ist kein Stratege, kein
Geschäftsmann. Er ist ein Erlöser. Hitler hatte neben sich, wir erinnern
uns, nur Stalin gelten lassen. Er war der einzige andere
Nicht-Staatsmann, der einzige Nihilist, der kein anderes Interesse hatte
als den Erhalt der Macht. Der einzige Führer der damaligen Welt, der
tatsächlich Geschichte machte, sie nicht geschehen ließ, sondern steuerte. In einem Wort: der einzige Übermensch.
Elfriede Jelinek hat ihrem Stück "Endsieg", das von Trumps Wiederkehr
handelt, eine Vorrede vorangestellt. Darin heißt es: "Das
Ersatzklassenbewußtsein der Deklassierten ist der Faschismus, der
letztlich staatsfeindlich ist. Er wächst überall und deckt alles zu, wie
eine Schneedecke. Er überzieht alle Klassen. Wenn man sich nichts und
niemand zugehörig fühlen kann, dann hat man immer noch einen morschen
Patriotismus, der alles trügerisch vereint." Und sie fügt hinzu, in der
ihr eigenen Ehrlichkeit: "Zum Endsieg, zum letzten Sieg, fehlt mir sogar
ein Begriffssystem, in das ich es einordnen könnte. Der Text ist wie
die Saiten einer Harfe, an denen jemand zupft, aber ich verstehe nicht
mehr, was dahintersteckt oder wie es funktioniert."
Jelinek bezieht sich auf Trumps Wiederwahl 2024, mich erinnert es an
2012, als Putin zum zweiten Mal – oder eigentlich zum dritten Mal –
Präsident wurde. Ich erinnere mich, wie verstört wir waren, nicht, weil
dafür die Verfassung geändert werden musste (an Verfassungsänderungen
gewöhnt man sich in Europa sehr schnell), sondern weil es mit der
Unterstützung der Orthodoxen Kirche geschah. Kirche, Staat und
Geheimdienst schlossen sich zu dem zusammen, was Putin später die
"gelenkte Demokratie" nennen sollte. Am verrücktesten war aber, dass es
mit fast 90prozentiger Akklamation des russischen Volkes geschah.
Niemand hätte jemals gedacht, dass ein Volk, das durch über 70 Jahre
kommunistische Diktatur gegangen war, sich noch einmal für einen
Diktator entscheiden würde.
Ursina
Lardi am Pult bei der Lesung von "Endsieg | The Second Coming" von
Elfriede Jelinek. Livestream im Januar 2025 | Screenshot
Damit beschäftigt sich Elfriede Jelinek in ihrem Text, den uns Nicole
Ansari-Cox gleich vortragen wird: mit uns, dem Volk, das mit
traumwandlerischer Verblendung die gefährlichsten, verrücktesten,
unberechenbarsten Männer an die Spitze des Staates wählt. Männer, die
wie einst Hitler, keinen Hehl machen aus ihrer Verachtung für
Demokratie, Contenance, Ausgleich. Vorbestrafte Vergewaltiger wie Donald
Trump, Kriegsverbrecher wie Putin. Fast so, als wäre unsere Geschichte
insgesamt unernst, eine Art Theaterstück, das wir jederzeit, wenn es zu
blutig wird, unterbrechen könnten. Ja, als wären Trump und Putin bloß
Schauspieler, Darsteller in einem Historienstück, moderne Varianten von
Shakespeares Richard.
Ich habe das, in einer Rede ganz zu Beginn der RESISTANCE NOW! Tour,
die "atlantische Illusion" oder die "Fukuyama-Illusion" genannt: Die
Überzeugung, dass mit dem Sieg über den Faschismus und dem Untergang des
Staats-Kommunismus die Geschichte insgesamt an ihr Ende gekommen sei.
Die Überzeugung, dass "Der Westen", im emphatischen Sinn des Begriffs,
die restliche Welt, ihre Extremismen, ihre tribalen und feudalen
Resttraditionen einfach wie ein Kuhmagen verdaut – bis nur noch
Popkultur, Business und ein bisschen liberale Demokratie übrigbleiben.
Wie einst Hegel glaubt der europäische Geist nach wie vor, dass das,
was vernünftig ist, zwangsläufig auch wirklich werden muss. Was spricht
gegen Toleranz, Frieden, Menschen-, also Minderheitenrechte? Was spricht
gegen die liberale Demokratie? Was spricht gegen das größtmögliche
Glück für die größtmögliche Zahl der Menschen? Was spricht gegen den
demokratischen Kompromiss anstelle des Bürgerkriegs, gegen die Moral
anstelle des Willens zur Macht? Was spricht gegen den Nachtwächterstaat,
der das Volk nur dann belästigt, wenn es völlig unvermeidbar ist?
Nun ja: Die Wahrheit ist vielleicht, dass es die Geschichte, wie sie
sich Hegel, Marx oder Fukuyama vorgestellt haben, nie gegeben hat.
Geschichte war, wenn sie sich ereignete, immer ein Entweder-Oder, immer
tödlich für den Unterlegenen. Sie war nie tolerant, nie friedlich, nie
großzügig, oder mit einem Wort: nie vernünftig. Die Menschenrechte
hören, wie wir aktuell in Gaza oder in der Ukraine sehen, genau dann auf
zu gelten, wenn der Sieger sich seines Sieges sicher fühlt. Wenn er
seine Propagandalügen – oder sagen wir: seine Version der Geschichte –
für überzeugend genug hält, gegen alle Fakten und gegen alle Vernunft.
3.
Wie Sie wissen, findet heute im Segal Center eine Debatte statt unter
dem Titel RESISTANCE NOW, meine Gäste sind Richard Schechner und Tania
Bruguera, zwei Intellektuelle und Künstler, die ich unendlich schätze
und respektiere. Bei RESISTANCE NOW handelt es sich um eine Tour, die
nun ziemlich genau ein Jahr lang andauert und mich durch ein gutes
Dutzend Länder geführt hat. Das erste Jahr war ein Jahr der Analyse und,
wenn Sie mir diesen etwas naiven Begriff erlauben, der Hoffnung.
Es begann mit einem Offenen Brief an den Ministerpräsidenten der
Slowakei, der eine ganze Reihe liberaler Intendanten und Direktoren
entlassen hatte, unter anderem den Generaldirektor des Slowakischen
Nationaltheaters, meinen Freund Matej Drlička. Es ging weiter mit einem
Brief, den Elfriede Jelinek und ich an die Wähler Österreichs schrieben:
nicht die FPÖ zu wählen, die Nachfolgepartei der NSdAP, und dem
österreichischen Faschismus keine zweite Chance zu geben. Doch die
Österreicher kümmerten sich nicht um diesen oder andere Aufrufe und
verhalfen der FPÖ zu ihrem besten Ergebnis jemals. Nur aus Hybris –
nämlich der Unfähigkeit, mit der konservativen Mitte zu koalieren –
konnte sie die exekutive Macht im Land nicht ergreifen, weshalb wir im
Moment eine Art Expertenregierung haben.
Das ist das metapolitische Ungleichgewicht unserer
Zeit: Auf der einen Seite haben wir Institutionen, die dafür gemacht
sind, dass die demokratischen Spielregeln eingehalten werden. Auf der
anderen haben wir eine völlig archaische Auffassung von Macht, wie Trump
sie vertritt.
Als Höhepunkt der Tour starteten wir Ende des letzten Jahres eine
Kampagne für die Einführung eines neuen europäischen Gesetzes zur
Kulturfreiheit und erreichten damit 100 Millionen Menschen in 25
Ländern. Doch dann, vor knapp zwei Monaten, traf ich bei einem Gipfel
der ETC – der European Theater Convention, der Vereinigung der
europäischen Theater – auf einen ranghohen Vertreter der EU Kommission,
zuständig für Kultur. Er hörte sich unseren Plan, ein neues europäisches
Gesetz zum Schutz der Kunstfreiheit durchzusetzen, freundlich an und
sicherte uns seine volle Unterstützung zu. Dann aber machte er mir klar,
"wie das läuft in der Kommission": "Wir schreiben Gesetze, und dann
müssen wir hoffen, dass sie in den einzelnen Mitgliedstaaten angewendet
werden."
Mit anderen Worten: Das Ende der Geschichte hat stattgefunden, aber
leider nur in den liberalen demokratischen Institutionen. Und zwar
nicht, wie Trump oder Putin sich das vorstellen, weil diese
Institutionen von Schwächlingen bevölkert wären, sondern weil die
Demokratie nun einmal auf den Prinzipien der Gewaltenteilung, des
Föderalismus und der minimalen staatlichen Eingriffe basiert. Das ist
das metapolitische Ungleichgewicht unserer Zeit: Auf der einen Seite
haben wir Institutionen, die dafür gemacht sind, dass die demokratischen
Spielregeln eingehalten werden. Auf der anderen haben wir eine völlig
archaische Auffassung von Macht, wie Trump sie vertritt. Es ist eine
quasi-religiöse Auffassung, die wie einst der Staatskommunismus
Tatsachen per linguistischem Eingriff "verschwinden" lässt: Tatsachen
wie den "Golf von Mexico", politische Ideen wie "Diversität",
biologische und soziale Realitäten wie "weiblich" und "trans", Wörter,
die per präsidialem Dekret in offiziellen Dokumenten nicht mehr
vorkommen dürfen. Es ist eine Politik, die sich eine Kunst und einen
gesellschaftlichen Diskurs so vorstellt, wie die Migrationsbehörden in
ihren Interviews: eine Kunst, die eine staatlich verordnete Sprache
spricht und das Parteiprogramm der herrschenden Partei illustriert.
4.
Vielleicht, und damit komme ich zum philosophischen Argument meines
Vortrags, vielleicht brauchen wir eine neue tragische Dichtung, eine
neue tragische Kunst. Vielleicht ist das Zeitalter des bürgerlichen
Dramas – die Kunstform der Nachgeschichte – vorüber. George Steiner hat
es in seinem Buch "Der Tod der Tragödie" so formuliert: Das bürgerliche
Drama, zum Beispiel Ibsens Stücke, basiert auf der Annahme, dass mit
etwas mehr Hygiene, etwas mehr Minderheitenrechten, mit einer besseren
Kontrolle der Wirtschaft und einer ehrlicheren Aufarbeitung der
Vergangenheit alles in Ordnung kommen würden. Der dramatische Dichter
sagt, wie die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel: Die Lage ist ernst,
aber "wir schaffen das schon". Auch wenn, wie im Fall von Merkels
Flüchtlingspolitik, die Mehrheit, hätte man sie gefragt, dagegen gewesen
wäre. Eben ganz nach der liberalen Devise von Ibsen: "Die Mehrheit hat
nie das Recht auf ihrer Seite."
Die griechische Tragödie dagegen weiß um den Terror der Mehrheit, um
die Zerbrechlichkeit des Rechts, um die Lügenhaftigkeit der Sprache, die
Blindheit der menschlichen Entscheidungen. Die Tragödie weiß, dass die
Wahrheit öfter der Macht als der Vernunft folgt, oder wie Hitlers
Kronjurist, der berüchtigte Carl Schmitt, einmal sagte: "Das Recht folgt
der Politik". Ein Zitat, das der Leiter der FPÖ, Herbert Kickl, wie
viele Nazi-Zitate wörtlich in sein Programm übernommen hat. Oder wie
Trump einmal sagte: Es geht nicht darum, der erste zu sein, denn das
würde ja voraussetzen, dass man die Spielregeln respektiert. Es geht
darum, der einzige zu sein: Das Spiel zu beenden mit dem Sieg. Die Namen
der Unterlegenen – wie einst Stalin die Opfer der Moskauer Prozesse –
aus den Geschichtsbüchern zu tilgen.
Warum folgen Menschen einem "Herrn", dessen einzige Ideologie hohler Triumphalismus ist?
Doch in der tragischen Dichtung – und das ist der Irrtum aller
Autokraten, behaupte ich – geht auch der Sieger leer aus. Am Ende von
Sophokles' "Antigone" steht Kreon vor den Leichen seiner Familie. Als
Agamemnon nach dem Sieg über Troja nach Hause zurückkehrt, wird er
selbst zum Opfer der Gewalt, die er mit der Opferung von Iphigenie in
Gang gesetzt hat. Die wahre Tragödie ist, nun ja, tragisch: Sie
kennt keine Sieger, nur Besiegte. So kommt es, dass die tragische
Dichtung mehr weiß über die Macht, als die Mächtigen selbst. Und dass
Elfriede Jelinek, die meines Erachtens hellsichtigste Tragödiendichterin
unserer Zeit, sich wundert über die Rhetorik der Selbstunterwerfung des
Volkes, das ja nur ins Verderben führt, so wie der blinde Seher des
Stücks: "Ich verstehe es nicht. Aber leider höre ich, wie es klingt."
Das ist das Thema von "Endsieg": Warum folgen die Menschen in
Russland, den USA, in Ungarn, der Slowakei und einer ständig wachsenden
Zahl europäischer Staaten – die nächsten werden Österreich und
Deutschland sein – autokratischen Führern? Warum folgen Menschen einem
"Herrn", dessen einzige Ideologie hohler Triumphalismus ist – die
Ideologie des Dionysos, der in den "Bakchen“ des Euripides verkündet:
"Was ist Weisheit? Was ist das Schönste, das Götter den Sterblichen
schenken? Siegreich die Faust auf des Feindes Nacken zu drücken! Und was
schön ist, bringt Freude." Das sind die "Harfenklänge", die Elfriede
Jelinek untersucht: die Rhetorik einer quasi-kultischen Gemeinschaft.
Eine Musik, in der etwas Mysteriöses, Unverständliches anklingt, eine
tragische Transformation, der Untergang der Welt, wie wir sie kennen:
die Apokalypse, die mit dem "Second Coming" des Messias Einzug hält,
oder mit dem deutschen Titel: der "Endsieg". Kein Wunder, hat der
Tech-Faschismus ein Bild biblischen Grauens in die Populärkultur
zurückgebracht: eine Auffahrt zum Himmel ohne Spiritualität, die Flucht
der Tech-Milliardäre vom brennenden Planeten Erde auf den Mars.
Egal, wie viele Pamphlete sie mit mir unterzeichnet: Elfriede Jelinek
weiß um unser zutiefst tragisches Wesen, um den geheimen
Untergangswunsch der Menschheit, denn anders kann man es nicht nennen.
Und so endet "Endsieg": "Alle gemeinsam haben wir die brennende Erde und
einen hohen brennenden Berg voller brennender Bäume, nein, nicht hoch,
ein Hügel nur, den wir erklimmen, immer wieder erklimmen mit unseren
Rucksäcken hinten und der Wut vorn und der Waffe etwas mehr seitlich.
Wir waren schon oft oben, den Weg finden wir inzwischen im Schlaf. Wer
bist du, der Unsterblichen Bester, der uns ruft, der uns fragt? Das muß
er nicht, wir sagen brennend ja. Bis wir zu Sinnen gekommen, sagen wir
halt, immer noch brennend: ja."
5.
"Wille zur Macht", "Gott", "Das Tragische", der "Übermensch": Einige
werden es bemerkt haben, ich habe einen nietzscheanischen Weg
eingeschlagen. Nietzsche ist der Philosoph, der zu Ende des 19.
Jahrhunderts das Ende der christlichen Metaphysik, das Ende des
bürgerlichen Zeitalters und seiner moralischen Vorstellungen
voraussagte. Wille zur Macht statt Ethik, Fülle des Lebens statt
Vernunft, Herrschaft der Übermenschen statt Wohlfahrtsstaat, Spiel und
Ritual statt Psychologie, kurz: Tragödie statt Drama. Es scheint, als
hätte Nietzsche die Welt Putins und Trumps gekannt, lang vor ihrer Zeit.
Kein Wunder bezog sich Hitler, der kein Gefühl für Ironie hatte, auf
Nietzsche, als er seine nihilistische Herrschaft über Deutschland und
Europa begründete.
"Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit
seinen Blicken: Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn
getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!", heißt es in
Nietzsches Buch "Die fröhliche Wissenschaft". Das Problem war nur: nach
diesem Mord geschah tatsächlich – nichts. Danach kam nicht nur der
Nihilismus – bei Nietzsche übrigens kein völlig negativer Begriff,
sondern eher eine historische und existenzielle Notwendigkeit, ein
Übergangsraum zu einem neuen Glauben. Nein, nach Nietzsche kam der
organisierte Nihilismus: der Faschismus, der Kommunismus, dann der
Neoliberalismus und schließlich der zweite Faschismus, beziehungsweise
der Tech-Faschismus (als wäre der erste nicht genauso ein
Tech-Faschismus gewesen).
Matej
Drlička, Barbara Engelhardt (Maillon, Theater der Stadt Straßburg),
Milo Rau und Heidi Wiley von der ETC European Theatre Convention bei der
ETC-Aktion in Strasbourg © Juliette Riegel
Natürlich: Fortschritt, wie wir ihn "nach Nietzsche", also im
skeptischen, nihilistischen 20. Jahrhundert kannten, konnte auch
Befreiung, Emanzipation, Erweiterung des Menschlichen, Gerechtigkeit,
Rücksichtnahme, Liebe bedeuten. Aber zu gleichen Teilen, und zwar von
liberaler wie konservativer Seite, hieß Fortschritt "nach Nietzsche",
und zwar schneller und radikaler als jemals: Technisierung, Entfremdung,
Ausbeutung, Vereinzelung. Es entstand eine Welt, völlig zivilisiert,
völlig individualisiert, aber ohne geistiges Fundament. Eine Welt, die
zur leichten Beute des zweiten Faschismus werden konnte, wie Elfriede
Jelinek ihn beschreibt. Eine Welt, die das bekommt, was sie verdient:
eine Metaphysik ohne Ziel, abgesehen von einem Exit-Plan für die
Superreichen; eine Metaphysik ohne Neugierde, also ohne die Frage nach
dem Sinn unseres kollektiven Daseins; eine transzendenzlose Metaphysik,
die alles Geistige, Spirituelle verachtet – solange es nicht leerer,
dekorativer Ritus ist, wie die orthodoxen Umzüge und Aufmärsche, die
goldenen Hallen, wehenden Fahnen und martialischen Choräle, die die
Autokraten so sehr lieben.
Sollen wir uns also verabschieden von der Idee des Tragischen? Sollen
wir das Drama weiterhin verteidigen gegen die Rückkehr der Tragödie?
Ich glaube, wir müssen erst lernen, das Tragische zu verstehen. Und hier
kommt die Rolle, die Nietzsche der Kunst zugedacht hatte, in Anlehnung
an die griechische Antike, die ja, als sie sich von den "alten" Göttern
abwandte, die Tragödie erfand, um den ontologischen Fragen nach Anfang
und Ende, Sinn und Unsinn des Lebens einen neuen Ort zu geben.
Nietzsche wollte an die Stelle Gottes und der Metaphysik das setzen,
was er in der "Fröhlichen Wissenschaft" den "tollen Menschen" und später
– ein leider völlig idiotischer Terminus – den "Übermenschen" nannte:
fähig, aus dem Nichts heraus eine Mythologie, einen Glauben, eine
Religion des Lebens zu schaffen. Eine Daseinsform, die die Leerstelle,
die nach dem Tod Gottes entstanden war, mit etwas anderem füllt. Mit
einer Art positivem Nihilismus: der Konfrontation mit dem Tragischen,
mit der absoluten Ausgesetztheit unseres Daseins.
Nicht durch die Herrschaft des Dionysos, also nicht durch
ritualisierte Autokratie. Aber auch nicht durch das, was ich an anderer
Stelle den sozialdemokratischen Realismus genannt habe: die Hoffnung,
mit Gott seien auch der Zorn und die Grausamkeit der Götter aus der Welt
verschwunden, die Hybris der Herrscher, das Leid der Besiegten, die
Notwendigkeit des Widerstands, der Liebe und kollektiver Sinngebung. Man
mag vom "Willen zur Macht" halten, was man will: Es ist die vielleicht
stärkste Triebkraft des Menschen, wie wir ihn aus der Geschichte kennen.
Schauen Sie sich die Gesichter der europäischen Zwerge an, wenn sie in
Trumps Schloss zu Besuch sind: wie sie wie unter einer Höhensonne
strahlen, magnetisiert von der Macht. Wie Macron sein bestes Englisch
spricht. Wie das Zwerglein Merz sich freut, als Trump seine Sommerbräune
lobt.
Ich behaupte, dass Europa es nie gelernt hat, den imperialen Geist
abzulegen. Wie wir aus den griechischen Tragödien wissen: Es ist
schwierig, vielleicht politisch unmöglich, den Verlust eines Imperiums
zu verkraften. Denn der Staat – und da hatte Hegel recht – ist das
vielleicht letzte Versprechen auf Ewigkeit, auf Unsterblichkeit, auf
Sinn. Ich denke deshalb, dass wir, so säkular wir auch sein mögen,
Gottes Tod nie wirklich akzeptiert haben, ihn nie als individuelle und
gesellschaftliche Möglichkeit verstanden haben: Als Beginn einer
Extremkunst des Lebens. Als Prolog zur endgültigen Rückkehr des Menschen
auf die Erde, als Wiederkunft aus unseren imperialen und metaphysischen
Träumen in eine Welt, in der alles erlebt werden muss und nichts
erobert, nichts erhofft. Als Beginn der Wiedergeburt der Gesellschaft
und der Kunst aus der Idee des Lebens und seiner tragischen
Verletzlichkeit.
Das verteidigen wir ja: unsere Sanftheit, unser
Höflichkeit. Dafür kämpfen wir, für unsere Menschlichkeit. Und damit
werden wir sie am Ende auch besiegen: mit der Kraft unserer Liebe.
Denn sind die Götter tot, dann heißt das vor allem, dass es kein
Jenseits gibt: kein möglicher Fluchtpunkt des Lebens, kein Notausgang
auf den Mars oder in einen "sinnvollen" Tod. Dem setzt eine Religion des
Lebens eine radikale Immanenz entgegen. Wie der französische Philosoph
Bruno Latour es forderte: Nach Hunderten von Jahren, in denen sich der
Mensch als extraterrestrisches Wesen verstand, müssen wir endlich
landen, müssen wir auf unseren Planeten zurückkehren. Wie die tragischen
Helden der Antike müssen wir mit unserer Kreatürlichkeit fertigwerden.
Und hier kehrt auch die Heiligkeit des Lebens zurück, quasi als
spirituelle Tautologie: Das Leben hat keinen anderen Sinn als das Leben
selbst. Das war das, was Nietzsche den "Amor Fati" nannte: die "Liebe
zum Schicksal", ein positiv gewendeter Nihilismus, der alles im Leben,
einschließlich aller Unfälle und Zufälle, einschließlich Leid und
Verlust als gut und notwendig erachtet. "Dem Dichter und Weisen sind
alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage
heilig, alle Menschen göttlich." Dieses Motto des amerikanischen
Dichters Emerson hatte Nietzsche an den Anfang seiner Überlegungen zum
Tod Gottes gesetzt, an den Anfang seiner "Fröhlichen Wissenschaft".
Wie enden? Vergangenen Mai gründeten wir in Wien die "Republik der
Liebe". Ich werde Ihnen später mehr davon erzählen, doch die Idee zu dem
Namen kam mir zu Beginn der RESISTANCE NOW! Tour, die heute hier im
Segal Center Station macht. Es war im September 2024, in Amsterdam, und
ich saß mit dem damals gerade erst von der slowakischen Regierung
entlassenen Matej Drlička auf einem Panel. Wir sprachen über genau das
gleiche Thema: die tragische Rückkehr des Faschismus.
Als wir zu den Publikumsfragen kamen, stand ein Mann auf, ein
Slowake, und fragte: "Haben uns die Faschisten besiegt, weil wir zu nett
waren, zu weich, zu höflich?" Matej dachte nach, und sagte dann: "Nein,
denn das verteidigen wir ja: unsere Sanftheit, unser Höflichkeit. Dafür
kämpfen wir, für unsere Menschlichkeit. Und damit werden wir sie am
Ende auch besiegen: mit der Kraft unserer Liebe."